Für die Physikerin Viola Priesemann sind Vorhersagen kein Blick in die Glaskugel: Sie berechnet mit Ihrem Team die Infektionen mit Covid 19 und die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Impfungen und die Vermeidung hoher Infektionszahlen sind Ihrer Meinung nach die richtigen Strategien. // von Lasse Böhm

Viola Priesemann, Leiterin der Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, ist überzeugt, wer Treiber der Pandemie ist: „Das sind nicht die Schulen, nicht die Älteren, nicht die Partys und nicht der Arbeitsplatz, sondern die Menschen, die nicht wissen, dass sie ansteckend sind.“ Sie fordert eine klare Strategie, um die Maßnahmen nicht auf halben Weg „verpuffen“ zu lassen. Auf Grund ihrer Forschung sieht sie die großen Vorteile der Niedrig-Inzidenz-Strategie, eine Alternative wären Öffnungsschritte in Eigenverantwortung der Menschen. Die Strategie des Mittelwegs werde zu einem langanhaltenden Lockdown führen.

Vorhersagen beruhen auf der Berechnung 

Die Erde illustriert als Virus. Quelle: Pixabay

Für die Berechnung von Infektionen und die Wirksamkeit von Maßnahmen nutzen Priesemann und ihr Team Modelle. Das Basis-Modell SIR, in dem S für nicht Infizierte, I für Infizierte und R für die Menschen steht, die die Infektion überstanden haben, ist auch für den Laien einfach zu verstehen. „Je mehr Infizierte es gibt, desto mehr Menschen ohne Impfschutz oder Resistenz werden angesteckt und es kommt zum exponentiellen Wachstum“, erklärt Priesemann. Anhand solcher Modelle könne mit Daten der STIKO und mathematischer Formeln Wahrscheinlichkeiten für die Entwicklung der Infektionen, der schweren Verläufe und der Wirksamkeit von Maßnahmen berechnet werden.

 

Vorhersagen waren überwiegend richtig

Priesemann betont, dass Wissenschaft nicht unfehlbar sei. Dennoch haben die Vorhersagen ihres Teams im vergangenen Jahr gut funktioniert. Neben den Neuinfektionen pro Tag würde der R-Wert eine wichtige Rolle spielen. Er gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. So habe sich im Frühjahr 2020 gezeigt, dass die Fallzahlen erst nach dem Rückgang des R-Wertes unter die kritische Schwelle von 1 spürbar zurückgegangen seien. Trotzdem ist Priesemann überzeugt, dass das Kontaktverbot Ende März 2020 richtig war: „Wir haben das befürwortet. Es war notwendig, um die Fallzahlen wieder zuverlässig zu senken.“ Die Schließung von Schulen und Universitäten hatte nach Berechnungen verschiedener Studien in 2020 einen sehr starken Effekt, sagt die Wissenschaftlerin. Allerdings könne daraus nicht abgeleitet werden, wieviel Schulschließungen in Zukunft bringen könnten.

 

Volle Intensivstationen als Limit

Hohe Anzahl an verschiedenen Zahlen in Statistiken. Quelle: Pixabay

Momentan gibt es laut Priesemann zwei mögliche Strategien, die zur Eindämmung des Virus diskutiert werden. Bei Strategie eins seien ausgelastete, aber nicht überfüllte Intensivstationen ausschlaggebend. Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung würden nur dann ergriffen, wenn eine Überlastung absehbar sei. Trotz des Impffortschrittts würden die Intensivstationen laut Priesemann über viele Wochen gefüllt bleiben. Begründet würde dies mit nicht impfwilligen Menschen und Jüngeren, die sich erst ab einem bestimmten Zeitpunkt schützen lassen können. Den Impfstoffe halte sie für „sehr, sehr gut“, ein Impfschutz zu 95 Prozent hieße allerdings, dass fünf Prozent der Menschen trotz Impfung einen schweren Verlauf haben könnten.

Strategie der Niedrig-Inzidenz

Hölzerne Klötze neben einem Haus welche das Hashtag „StayHome“ präsentieren. Quelle: Pixabay

Bei der Strategie der Niedrig-Inzidenz würde versucht, das Infektionsgeschehen im Griff zu behalten. Der Vorteil wäre eine bessere Kontaktverfolgung, da diese bei niedrigen Inzidenzen für Gesundheitsämter deutlich vereinfacht wäre. Die Schnelligkeit sei das „A und O“ der Kontaktverfolgung. Der R-Wert könnte somit möglichst geringgehalten werden. Doch müssten wir uns durch dieses Strategie Monate lang an strenge Regeln und Freiheitsbeschränkung halten? Priesemann verneint dies deutlich: „Dies ist absolut nicht der Fall, denn die Lockerungen werden vor allem vom Impffortschritt bestimmt.“ Die Voraussetzung wäre zu Beginn eine leichte Einschränkung, um die Fallzahlen zu senken. Ab Mai könnte man mit dem Impffortschritt zunehmend mehr Freiheiten besitzen.

Gefahr durch „Escape-Varianten“

Über Virus-Varianten aus Brasilien oder Indien ist momentan noch wenig bekannt, allerdings könnten diese den Impfschutz „ein Stück weit umgehen“. Dazu ist Dr. Priesemann der Auffassung: „Wollen wir mit Sicherheit einen guten Sommer haben, ist es eine gute Idee, diese Varianten soweit wie möglich draußen zu halten oder deren Ausbreitung soweit wie möglich zu verzögern.“ Dafür wäre unter anderem das Testen an den Grenzen nötig, um die Mobilität des Virus einzuschränken. Das dies gelingen kann, würde man an der der Virusvariante B117 aus Großbritannien erkennen können. Diese konnte so verzögert werden, dass diese uns erst drei Monate nach ihrer Ausbreitung in Großbritannien erreichte. Die räumliche Verbreitung dieser Virusvarianten ließe sich damit verzögern, ganz verhindern jedoch nicht. Die zusätzlich gewonnene Zeit wäre laut Dr. Priesemann sehr wichtig, „da ein paar Monate helfen, die Gefahren besser einzuschätzen und möglicherweise die Impfstoffe entsprechend anzupassen.“

Eigenverantwortung spielt eine wichtige Rolle

Ein Arzt vor der Weltkarte mit einer Illustration des Corona-Virus. Quelle: Pixabay

In der anschließenden Diskussion wurde über Datenschutz und Freiheitsrechte diskutiert. Der Forderung, auf Datenschutz zu verzichten, um die Rückverfolgbarkeit von Infektionsketten zu verbessern, erteilt Priesemann eine Absage. „Jeder kann einen eigenen Beitrag leisten, das sollte nicht verordnet werden“, betonte sie. So sei es beispielsweise möglich, Bekannte und Freunde zu warnen, wenn man davon ausginge, sich angesteckt zu haben. Nach den Unsicherheiten von Kennzahlen wie dem R-Wert befragt, betont sie, dass es immer Ungenauigkeiten gebe. Dennoch solle man vorliegende Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse nicht generell ablehnen, sondern ihren Nutzen realistisch abwägen.

 

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Die gesamte Vorlesung gibt es hier zu sehen:

 

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